Historisches
Den Vereinigten Staaten
Amerika, du hat es besser,
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser.
Und keine Basalte.
Dich stören nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten.
Geschichtliche Verortung (Historischer Kontext)
Spätestens seit Platon ist uns das Bestreben von
Denkern geläufig, einen totalen bis totalitären Idealstaat aus der Sicht des
Philosophen zu begründen; an der Durchführung bei Dionys, dem Tyrannen der
griechischen Kolonie Syrakus, scheiterte dieser Versuch einer
wissenschaftsgeleiteten Politik bereits damals. Originell war die Kombination
zwischen Ständestaat, in welcher der einzelne in seine Rolle hineingeboren
wird, mit dem angeordneten Gemeinbesitz und Gemeinschaftsleben, nachdem
letzteres durch den aufkommenden Individualismus in Frage gestellt worden war.
Aristoteles brachte uns die bahnbrechende Erkenntnis, daß in einer DEMOKRATIE,
die nicht zur Vorstufe der Diktatur verkommen will, das Element des Königtums
(in Gestalt der Verfassung) und der Aristokratie (in Gestalt der maßgeblichen
Mitwirkung der Fähigsten) fortleben muß. Als dann mit dem Ausgang des europäischen
Mittelalters die Kunst des Buchdrucks aufkam und die Gelehrten nicht mehr als
Scholaren von Bibliothek zu Bibliothek ziehen mußten, war die Zeit der
Textkommentatoren vorbei, denn eine Fülle von Büchern war fast allerorts verfügbar.
Etwa zwischen 1550 bis 1750 rechnet man das sog. Goldene Zeitalter der
Gelehrtenrepublik (Respublica litterarum), einer geschlossenen humanistischen
Gesellschaft von
"Gelehrten
und Forschern, Neuerern, Erfindern und [auch künstlerischen] Talenten, die
gemeinsam am Fortschritt menschlichen Wissens arbeiten sollten"
Prof. Dr. Gisela Schlüter: Die europäische Gelehrtenrepublik. Eine Skizze (Aufklärung und Kritik 1/2001) 3 , deren Aufsatz ich mich kommentierend bediene, schreibt:
"1700 präsentiert der französische Polyhistor Vigneul-Marville die
Gelehrtenrepublik mit folgenden Worten: >Niemals war eine Republik größer, bevölkerungsreicher, freier, ruhmreicher. Sie dehnt sich über die ganze Erde aus und setzt sich aus Menschen aller Nationalitäten zusammen, jeden Standes, jeden Alters und jeglichen Geschlechts.[...] Die Künste [...] verbinden sich dort mit der Literatur [...]. Die Religion aber ist in der Gelehrtenrepublik nicht einheitlich, und die Sitten sind, wie in allen anderen Republiken auch, gemischt, gut und schlecht. Man findet hier Frömmigkeit ebenso wie Freigeisterei.< Halten wir fest: Die Gelehrtenrepublik ist ihrem Anspruch nach universal, kosmopolitisch, religiös tolerant, und zu ihren 'Bürgern' zählen nicht nur Gelehrte, sondern auch Künstler und, so ist zu ergänzen, Techniker.Pierre Bayle, der bedeutende französische Frühaufklärer, Hugenotte im niederländischen Exil, notiert:
>Die Gelehrtenrepublik ist ein äußerst freier/ freiheitlicher Staat. Man erkennt dort nur die Herrschaft der Wahrheit und der Vernunft an; und unter deren Auspizien führt man auf unschuldige Weise Krieg gegen wen auch immer[...].? In der Gelehrtenrepublik gibt es demzufolge keinerlei Autorität außer derjenigen der Vernunft; in den intellektuellen Auseinandersetzungen der 'Bürger' derDie Gelehrtenrepublik ist freiheitlich und wird von Rationalität gesteuert. Sie ist, so verdeutlichen die Worte Pierre Desmaizeaux', der Anfang des 18. Jahrhunderts Bayles Korrespondenz edierte, eine Enklave idealer intellektueller Autonomie inmitten des politischen Staates, >ein Staat, der in allen Staaten verbreitet ist, eine Republik, deren Mitglieder in völliger Unabhängigkeit nur diejenigen Gesetze anerkennen, die sie sich selbst vorgeschrieben haben.<
Da die so konzipierte res publica litteraria ein virtuelles Gebilde, eine utopische Projektion, eine ideale Einheit darstellt, vergleicht Christoph August Heumann sie 1718 mit der Unsichtbaren Kirche: >Die Gelehrtenrepublik ist, was ihre Form betrifft, der unsichtbaren Kirche sehr ähnlich. Wie sich hier kein Monarch, keine politische Macht, sondern nur eine sehr große Freiheit findet, und wie hier nur die Heilige Schrift regiert, so herrscht in der Gelehrtenrepublik einzig die Vernunft, und niemand besitzt Zwangsrechte gegen irgend jemand Anderen. Und diese Freiheit ist die Seele der Gelehrtenrepublik.<"
Der Vergleich mit der durch die Bibel als eine Art Verfassung geleiteten Kirche ist bemerkenswert; und wenn die Gelehrtenrepublik (also der Gelehrtenstaat, da Republik hier nicht als demokratisch im heutigen Sinne verstanden wurde) auf die Richtschnur der Vernunft gegründet wurde, so bestand eigentlich die Notwendigkeit, sich auf den Begriff der Vernunft zu einigen. Dies ist im Hader der Rechthaberei und Eitelkeiten und wegen der noch fehlenden Zügelung der (Willkür-)Freiheit bewußt nicht erfolgt, vielleicht auch nicht gelungen. Niemand konnte damals ahnen, welches Ausmaß die durch Wissenschaft und Technik, durch Rationalität, angerichtete Zerstörung im 20. Jahrhundert annehmen würde, welche eine Einigung über den Inhalt und Stellenwert von Vernunft erzwingt.
„Ein gewisser Christian Loeber definiert 1708 die eigentliche Bestimmung dieser Enklave der Friedfertigkeit, Vernunft und intellektuellen Freiheit: >Wir sprechen von jener universalen Gesellschaft, deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut sind und sich zum Heil des Menschengeschlechts miteinander verbinden, um dem wahren Wissen und der wahren Gelehrsamkeit zu dienen, sie zu verbreiten und zu verteidigen und sie schließlich der Nachwelt zu überliefern.<
Die Gelehrtenrepublik verschreibt sich demzufolge der, so sei vorweggenommen, arbeitsteiligen Wissenschaft und Wahrheitssuche, und sie macht es sich zur Aufgabe, Wahrheit und Wissen zu tradieren und öffentlich zu machen und stellt sich damit in den Dienst nicht nur akademischen, sondern allgemein humanen Fortschritts. Und Loeber präzisiert — und mit diesem Zitat möchte ich meine Zitatenreihung zunächst einmal beschließen —: >Die gelehrte Gesellschaft [...] kennt keine Rangordnung von Herrn und Untertan, und folglich kann sie eigentlich weder als Republik noch als Demokratie und erst recht nicht als Aristokratie bezeichnet werden.[...] Sie ist eine völlig freie/ freiheitliche Gesellschaft, frei von aller Macht und Herrschaft und frei von allen Anordnungen, die Magistrate und Professoren treffen könnten.<"
Die Gelehrtenrepublik (scientific community) war also eine Republik im übertragenen Sinn wegen der innerhalb ihrer herrschenden Gleichberechtigung und Freiheit. Eine Art Teamarbeit war durch die wachsende Spezialisierung und Stoffülle erforderlich geworden. Zu Gründern der Gelehrtenrepublik zählt man Erasmus von Rotterdam und Francis Bacon, der im Fragment der utopischen NOVA ATLANTIS 1627 das "Haus des Salomon" als Staat im Staat beschrieb:
„>Die Gelehrten- und Forschergemeinschaft kann<, so heißt es bei Bacon, >völlig uneingeschränkt Untersuchungen anstellen, verfügt über einen phantastischen wissenschaftlichen Apparat auf allen Gebieten der Naturforschung und ist selbst dem Monarchen gegenüber nicht verpflichtet, die erzielten Resultate preiszugeben. Ein Teil der zum sog. Haus Salomons gehörenden Gelehrten hat den Auftrag, sich alle zwölf Jahre in geheimer Mission über neue Entdeckungen der übrigen Welt zu informieren, andere Mitglieder durchforschen die Literatur nach neuen, weiterführenden Hinweisen, wieder andere führen Experimente auf dem Gebiet der angewandten Wissenschaften durch, die von einem beigeordneten Gremium in Lehrsätzen und Tabellen systematisch festgehalten werden, während ein weiteres Dreierkollegium die einzelnen Maßnahmen und Experimente überwacht und die Ergebnisse auf ihre praktische Nutzanwendung hin überprüft. Hier wie auch in seinen theoretischen Schriften entwickelt Bacon Prinzipien kollektiven wissenschaftlichen Fortschritts, die noch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts stark beeinflusst haben.<"
Verwirklicht wurde diese Gemeinschaft durch intensive Briefwechsel, der häufig in Abschriften weitergereicht wurde, durch Gelehrtenzeitschriften in lateinischer Sprache, die im 18.Jahrhundert sich zu Fachzeitschriften weiterentwickelten, und durch eine Fülle von Akademien bei starkem Einfluß der Renaissance. Es wurden Bildungsreisen üblich, die vor allem nach Italien führten. Die geringere Beteiligung der Skandinavier an der Buchproduktion wurde von Abbé Bordelon auf das Steifwerden der Finger durch die dort herrschende Kälte zurückgeführt.
„1743/44 wurde die American Philosophical Society in Philadelphia von Benjamin Franklin gegründet."
Gisela Schlüter macht auf den in den Akademien sich breit
machenden Zug zur Mystifizierung aufmerksam, von Elizabeth Eisenstein als
>gewollte Aura des Mysteriösen< bezeichnet. Besonders zur Zeit der
Akademiegründung legten sich die Mitglieder latinisierte Namen zu, teilweise
wurden diese sogar der Hirtendichtung entnommen.
Ein vergleichbares Gehabe ist auch heute wieder verstärkt zu beobachten, wenn
es auch nicht gerade die Familiennamen betrifft, sondern eher die Titel und
Expertenbezeichnungen: die Massenuniversitäten führten
zu einer Ausuferung der Planstellen, und nun sehen auch recht mittelmäßige Köpfe
gezwungen, die Allüren der Großen nachzuahmen und Hochleistungen vorzutäuschen.
Teamarbeit setzt auch in die Lage, als einzelner in der Gruppe unterzutauchen
oder von der Leistung anderer zu profitieren, insbesondere aber Untergebene
(heute Mitarbeiter genannt) auszubeuten.
„In den Jahren 1712 und 1721 verbreitete der holländische Jurist Hendrik Brenkman das Projekt einer societas litteraria, in der die intellektuelle Elite Europas zusammenfinden sollte. Diese Organisation sollte ihren zentralen Sitz in den Niederlanden und Dependancen in den Hauptstädten der einzelnen europäischen Länder haben. Sie sollte materielle Mittel zur Publikation und Verbreitung wissenschaftlicher Arbeiten bereitstellen und zudem alle drei Monate ein Informationsbulletin herausgeben. Das ambitionierte Projekt Brenkmans scheiterte an finanziellen Problemen und nationalen Egoismen. 1747 erschien anonym in der Bibliothèque des ouvrages des savants de l'Europe ein ähnliches Projekt zur Einrichtung eines Zentralbüros derGelehrtenrepublik. Ziel einer solchen Einrichtung sei es, die gelehrte Welt gegen die Anarchie zu schützen, die ihr von allen Seiten drohe, denn sie bedürfe, wie jeder >Etat bien policé<, wie jeder gut organisierte Staat, einer einheitsstiftenden Zentrale. Dieser vermutlich aus einer deutschen Feder stammende Plan sieht sogar die Einrichtung einer zentralen richterlichen Instanz innerhalb der Gelehrtenrepublik vor, die freilich nochmals explizit als überkonfessionelle und unpolitische Enklave innerhalb des Staats ausgezeichnet wird: >Man möge in der Gelehrtenrepublik ein höchstes Tribunal einrichten, dem alle nur die Gelehrsamkeit und Literatur, nicht aber Religion und Staat betreffenden Streitfälle und Probleme vorzutragen und von dem diese zu entscheiden sind.<"
Solcher Dirigismus kam nie zum Tragen, dagegen erhoben sich wieder die Systeme einsamer Gelehrter wie die Ethik Baruch Benedict Spinozas und die Kritiken Immanuel Kants. Die der Lebenserhaltung dienende Vernunft und die daraus entspringenden politischen Forderungen konnte nun selbst den Maßstab abgeben. Kant forderte — als Königsberger im Sold des Absolutisten Friedrich des Großen stehend — in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" den Zusammenschluß der Staaten nach Republikanisierung und wurde über US-Präsident Woodrow Wilson zum Anreger des Völkerbundes. Die "Kriegsmaschine" (>machine des guerre<) der französischen Aufklärung, die vielbändige Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert4 vertrat auch atheistischen Auffassungen und wurde deshalb angefeindet und sogar mit einer päpstlichen Bulle belegt; die Enzyklopädie wurde dennoch international ein großer Erfolg.
„Die Gelehrtenrepublik ...ist ... gewissermaßen auch an einer Bevölkerungsexplosion oder Einwanderungsüberlastung zugrunde gegangen";
verhängnisvoll für sie wurde auch der aufkommende Nationalismus. Voltaire, der verschiedentlich als >König der Gelehrtenrepublik< angesehen wurde, bezeichnete den Geist der Enzyklopädie als "fliegende Fische" und meinte damit wohl das, was später auch "freischwebende Intelligenz" (Karl Mannheim) benannt wurde. Von den Führern der Revolution (selbst meist Akademiker) wurde der Vorwurf des Eletismus, ja der akademischen Scharlatanerie (Marat) laut. Ende des 19. Jahrhunderts kommt dann der Begriff des Intellektuellen auf, der gerade auch politisch Stellung bezieht. Bezeichnend für die Gelehrtenrepublik ist im Rückblick, daß schon für Francis Bacon die Verwertbarkeit von Wissen ein konstitutiver Gesichtspunkt war und bald auch eine Zentrale für die Bewertung wissenschaftlicher Arbeit als notwendig erkannt wurde, wie sie in der Form der biotelen Gutachteneinrichtung sich heute endlich verwirklichen ließe. Brotneid und Eitelkeit ließen sich damals kaum vermeiden, denn anonyme Schriften blieben die Ausnahme und dienten dann meist dem Schutz vor der Verfolgung durch die Regierung oder das Unverständnis und die Häme der Standesgenossen. Eine moderne biotele Lösung stellt die Trennung jeder biotelen Veröffentlichung in eine anonyme Und in eine öffentliche Publikationsphase dar; letztere begänne, wenn die Gefahr einer Urteilsverzerrung im Gutachtenprozeß vorüber ist.
Gisela Schlüter sieht im Internet mit seiner E-Mail-Korrespondenz und den Multimediamöglichkeiten heute eine Entwicklung eingeleitet, die revolutionär wie damals der Buchdruck, nun wieder den Studenten in die Einsamkeit der Stubengelehrsamkeit vor dem Bildschirm zurückführen könne, wie sie der Gelehrtenrepublik vorausging und sie begleitete.
Die "Problematik der kritischen
Sichtung" der Stoffülle hat sich infolge der "Gleichrangigkeit"
der elektronischen Publikationen erheblich verstärkt. Hier muß STIMME DER
WISSENSCHAFT in einer "globalen Informationsgesellschaft" die Aufgabe
der Gelehrtenrepublik neu aufgreifen. Gleichrangigkeit der Ziele und Gleichgültigkeit
kann sich die Menschheit dabei jedoch heute nicht mehr leisten. Eine Einigung
kann und soll nur auf dem kleinstmöglichen Nenner der Sinn- und
Bedeutungsauslegung erfolgen, wie er mit BIOTELIE als Maßstab und
Regulierungskriterium zugunsten der Erhaltung der Lebensgrundlagen geboten wird.
Die Wissenschaft muß als ein Ganzes — nicht nur in Teilen und zerstreut und
zeitweilig und damit widersprüchlich und leicht anfechtbar wie mit dem Göttinger
Manifest der 18 Atomphysiker5
vom 12. April 1957 — endlich politische
Verantwortung wahrnehmen. Begriffe wie "Freiheit der Wissenschaft" und
"Demokratisierung der Wissenschaft" müssen von dieser Aufgabe her neu
überdacht werden. Wie sattsam bekannt ist, führen die üblichen Konferenzen,
Kommissionen und Vortragsveranstaltungen zu dürftigen Resultaten. Deshalb muß
ergänzend unter Einsatz der modernen Nachrichtentechnik, insbesondere mit Hilfe
des Internet, ein unabhängiger und gestraffter Informations- und
Bewertungsaustausch erfolgen, dessen Ergebnisse nach Bewährung das Ansehen der
Wissenschaft als eine gewichtige und zentrale Führungsmacht begründen und
weiter stärken. Dabei sichern Anonymität und Sporadizität des biotelen
Verfahrens vor Willkür, Mißbrauch und Allmacht (Totalitarismus und
Dirigismus). Alleinherrscherin (Monarchin) ist die Vernunft, welche in immer neu
zu erringenden funktionellen Resultaten erkannt werden muß.
Goethe konnte einen derartigen Fortschritt über die Elektrizität noch gar
nicht ahnen:
Wüßte nicht, was sie Bessers erfinden könnten,
Als wenn die Lichter ohne Putzen brennten.
ANHANG
Da ich nun einmal darauf aufmerksam wurde, wie sehr Goethe, wenn auch von einer ganz anderen Mentalität, doch oft mit seiner Lebenserfahrung den Nerv zu BIOTELIE in Beziehung auch noch zum heutigen Zeitgeschehen traf, war ich bald so von dieser von mir empfundenen Übereinstimmung fasziniert, daß die Zitatenliste immer mehr wuchs. Freilich war Goethe bedeutend geselliger, leutseliger und angepaßter, diplomatischer — und schließlich damit ja auch ungleich erfolgreicher; aber Goethe war auch Naturforscher und damit aufgeklärter als andere, das machte ihn mir besonders sympathisch. Die theoretische Ader war wohl weniger entwickelt, so daß ihm Kant und Spinoza fremd blieben, obwohl er letzteren hochschätzte. Jedenfalls ließ sich der Bergbauminister von Weimar auf dieses brennende Geistesgeschehen nicht näher ein: waren ja auch heiße Eisen! (Man denke nur an die berühmte Begegnung mit dem kaiserlichen Gefolge an der Seite Ludwig van Beethovens 1812 im böhmischen Teplitz bei Bad Karlsbad!)
Sollen dich die Dohlen nicht umschrein,
Mußt nicht Knopf auf dem Kirchturm sein.
Es verbindet mich mit Goethe auch die gemeinsame Schaffensquelle der Inspiraton; auf nichts hätte Goethe weniger verzichten mögen als auf seine Dichtergabe, von der man allerdings nie zu viel erwarten darf.
Den Dichter
könnt ihr mir nicht nehmen,
Den Menschen geb' ich euch preis;
Auch der darf sich nicht schämen,
Greift doch an euren Steiß.
Jüngling,
merke dir, in Zeiten,
Wo sich Geist und Sinn erhöht:
daß die Muse zu begleiten,
Doch zu leiten nicht versteht.
Da ist aber auch die durchgehaltene agnostische Haltung bei Goethe, die es ebenfalls an Ehrfurcht und Selbstbescheidenheit nicht mangeln läßt. Dann auch das Geltenlassen anderer und der versuchte historische Durchblick.
Selbst erfinden ist schön;
doch glücklich von andren Gefundnes
Fröhlich erkannt und geschätzt, nennst du das weniger dein?
Wer ist der
glücklichste Mensch? Der fremdes Verdienst zu empfinden
Weiß und am fremden Genuß sich wie am eignen zu freun.
So sehr sich die Humanisten bis in die Zeit der Aufklärung hinein auch zugleich als Weltbürger verstanden und empfanden, die Großen unter ihnen verstiegen sich nicht in eine leere Gefühlsduselei und verfielen nicht in Träumereien, um den Machtmenschen und Diktatoren ihr Handwerk und ihre Untaten zu erleichtern. Daß es bei uns ganze Heerscharen von Unbelehrbaren gibt, zeigt sich immer wieder; auch daß nicht wenigstens einige darunter sich bisher dazu bereit erklären, die biotelen Thesen zu überprüfen, spricht Bände. Goethes Einstellung meine ich aus folgenden Zeilen erschließen zu dürfen:
Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen, von
Natur zu urteilen? Wo
sollten wir sie herkennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert
an uns fühlen und an andern sehen. Ich schäme mich oft vor Schäckespearen,
denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke: das hätt' ich
anders gemacht! Hinterdrein erkenn' ich, daß ich ein armer Sünder bin, daß
aus Schäckespearen die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblasen
sind, von Romanengrillen angetrieben.
Und nun zum Schluß, ob ich gleich noch nicht angefangen habe.
Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von
Schäckespearen: das, was wir bös nennen, ist nur die andere Seite vom Guten,
die so notwendig ist zu seiner Existenz und in das Ganzen gehört, als Zona
torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten
Himmelstrich gebe. Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte,
unerfahrne Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet:
Herr, er will uns fressen.
Ich habe den politisch-bissigsten Teil
seines Lebensberichtes, den "Reinecke Fuchs" nicht auch noch
hinzuziehen können, so sehr es mich gejuckt hat. Aber aus "Dichtung und
Wahrheit" möchte ich doch noch den Stand der Problematik der Rechtseinheit
des dahinschwindenden Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wenigstens
berührend anmerken.
Bei aller meiner Sympathie und Liebe zur Kleinstaaterei mit ihrer kulturellen
Fruchtbarkeit, geht es doch mit BIOTELIE auch um die große einigende Klammer:
Mögen ihrer Kontrollkörper-Organisation, so sie denn endlich aus der Taufe
gehoben ist, in ihrer Eigendynamik die notwendigen Mittel zufließen, so
daß es nicht so dürftig um das Rechtsystem bestellt ist wie damals um das
Reichskammergericht; das aber hiermit der Vergessenheit entrissen sei.
Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierter Band
Gewiß, es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild
bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen
entspringt! —
Was ich damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig; was ich sagte, wüßte ich
nicht wieder zu finden. So viel ist aber gewiß, daß die unbestimmten, sich
weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeten Völker allein zum
Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden
soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe
umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind:
Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen, so wie
sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu befriedigen suchen... (a. a.
O. S.7)
Ein allgemeiner Fehler, dessen sich die Menschen bei ihren Unternehmungen schuldig machen, war auch der erste und ewige Grundmangel des Kammergerichts; zu einem großen Zweck wurden unzulängliche Mittel angewendet. Die Zahl der Assessoren war zu klein; wie sollte von ihnen die schwere und weitläufige Aufgabe gelöst werden? Der Kaiser konnte eine Anstalt nicht begünstigen, die mehr wider als für ihn zu wirken schien; weit größere Ursache hatte er, sein eignes Gericht, seinen eignen Hofrat auszubilden. Betrachtet man dagegen das Interesse der Stände, so konnte es ihnen eigentlich nur um Stillung des Bluts zu tun sein: ob die Wunde geheilt würde, lag ihnen nicht nah; und nun noch gar ein neuer Kostenaufwand? Man mochte sich' s nicht ganz deutlich gemacht haben, daß durch diese Anstalt jeder Fürst seine Dienerschaft vermehre, freilich zu einem entschiedenen Zwecke, aber wer gibt gern Geld für das Notwendige? Jedermann wäre zufrieden, wenn er das Nützliche um Gottes willen haben könnte.
Anfangs sollten die Beisitzer von Sporteln leben, dann erfolgte eine mäßige Bewilligung der Stände; beides war kümmerlich. aber dem großen und auffallenden Bedürfnis abzuhelfen, fanden sich willige, tüchtige, arbeitsame Männer, und das Gericht ward eingesetzt. Ob man einsah, daß hier nur von Linderung, nicht von Heilung des Übels die Rede sei, oder ob man sich, wie in ähnlichen Fällen, mit der Hoffnung schmeichelte, mit wenigem vieles zu leisten, ist nicht zu entscheiden; genug, das Gericht diente mehr zum Vorwande, die Unruhstifter zu bestrafen, als daß es gründlich dem Unrecht vorgebeugt hätte... (a. a. O. S. 79) Die Sachen von schwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen Rechtshändel blieben im Rückstand, und es war kein Unglück. Dem Staate liegt nur daran, daß der Besitz gewiß und sicher sei; ob man mit Recht besitze, kann ihn weniger kümmern. Deswegen erwuchs aus dem nach und nach anschwellenden ungeheuren Anzahl verspäteter Prozesse dem Reiche kein Schade. Gegen Leute, die Gewalt brauchten, war ja vorgesehen, und mit diesen konnte man fertig werden; die übrigen, die rechtlich um den Besitz stritten, sie lebten, genossen oder darbten, wie sie konnten; sie starben, verdarben, verglichen sich; das alles war aber nur Heil oder Unheil einzelner Familien, das Reich war nach und nach beruhigt. Denn dem Kammergericht war ein gesetzliches Faustrecht gegen die Ungehorsamen in die Hände gegeben; hätte man den Bannstrahl schleudern können, dieser wäre wirksamer gewesen... Bei den westfälischen Friedensverhandlungen sahen die versammelten tüchtigen Männer wohl ein, was für ein Hebel erfordert werde, um jene Sisyphische Last vom Platze zu bewegen. Nun sollen fünfzig Assessoren angestellt werden, diese Zahl ist aber nie erreicht worden... (a. a. O. S.80)
Dichtung und Wahrheit, Vierter Band, Dritter Teil, Zwölftes Buch:
Kaiser Joseph II. wollte, "nach eigenem Antrieb und in Nachahmung Friedrichs" des Großen, Heer und Justiz wieder auf Vordermann bringen; nachdem seit 160 Jahren keine Visitationen, also Verwaltungs- und Kassenkontrollen, mehr durchgeführt und Schlendrian, ja Korruption eingerissen waren, übereilte er sein Vorhaben. Als Goethe beim Kammergericht in Wetzlar eintraf, um seinen Dienst zu versehen, hatten sich 20 000 Prozesse angehäuft, aber nur 60 konnten jährlich erledigt werden bei einem Neuzugang von jährlich 120; !7 Assessoren waren tätig. Da viele Streitparteien sich zwischenzeitlich verglichen hatten oder verstorben waren, wurde die Erinnerung zur Pflicht gemacht, die zu Bestechungen der Sachbearbeiter Anlaß gab. Diese höchstrichterliche Instanz eignete sich natürlich auch gut zu Prozeßverschleppungen. (a. a. O. S.83) Zudem befanden sich die Aktenberge durch den Wechsel der Gerichtsortes und in Kriegszeiten unter Aufteilung des Archivs ständig unterwegs, so teils in Worms, Speyer oder Aschaffenburg; die Franzosen vernichteten einen Teil der Akten nur deshalb nicht, weil ihnen der Abtransport zu umständlich war. (a. a. O. S:80)
Das biotele Gutachtenverfahren
könnte sich natürlich auf die Segnungen der modernen Elektronik und Informatik
stützen. Urteilsverschleppungen müßten unbedingt ausgeschlossen werden, wozu
das in die Tausende, ja Zehntausende zählende Heer potentieller fallbezogen
berufener Fachbegutachter in Stand setzen könnte. Der Ablauf unter Chiffrierung
schlösse Bestechungen und eine Behandlung außerhalb des "Rechts der
Reihenfolge" praktisch aus.
Die Frage der Dringlichkeit und des voraussichtlich lohnenden Mitteleinsatzes
wäre Gegenstand bereits der Erstbegutachtung. Sobald der erste Gutachter sein
Urteil abgegeben hat, würden der oder die Mitgutachter von diesem Umstand ohne
Resultatübermittlung in Kenntnis gesetzt. Für eine mit starker Verspätung
abgegebene Beurteilung — ohne Auftragsrückgabe zur Weitervermittlung —
müßten triftige Gründe angegeben werden, die in der gehobenen Qualität der
Antwort gefunden und anerkannt werden könnten.
Zurück zu Goethes Erinnerungen, welche für das
Reichskammergericht nicht gerade schmeichelhaft ausfielen. Die gelangweilten
Herrschaften einschließlich der Gesandte versammelten
sich des Abends zu geselligen Possen, wie etwa um eine "Rittertafel"
unter Verwendung alter und phantastischer Bezeichnungen und Titel. (a. a. O. S.84,85)
Schließlich war es allzu unübersehbar, daß das aus dem Römischen abgeleitete
Kaiserreich nur noch ein lächerliches Relikt, ja recht eigentlich ein Spuk war.
Wo die Macht fehlt, kann Autorität nicht bestehen.
Goethe,
wiewohl er als Theater-Dichter bei dem Spiel gut mithalten konnte, hatte nichts eiligeres im
Sinn, als sich möglichst rasch wieder aus dem Staube zu machen, um nicht in
Wetzlar zu
versauern. In der ihm zu engen Kleinstadtidylle geriet er in das
Freundschaftsverhältnis zu jener Braut, das ihm zu "Werthers Leiden",
zum Dichtererfolg und damit zum Absprung verhalf. (a. a. O. S.93,97,98)
Der krankhafte, monströse Zustand der Reichsverfassung schien schon damals den
Gelehrten willkommenen Stoff zu bieten:
Denn der ehrwürdige deutsche Fleiß, der mehr auf Sammlung und Entwickelung von Einzelheiten als auf Resultate losging, fand hier einen unversiegenden Anlaß zu immer neuer Beschäftigung, und man mochte nun das Reich dem Kaiser, die kleinern den größern Ständen, die Katholiken den Protestanten entgegensetzen, immer gab es, nach dem verschiedenen Interesse, notwendig verschiedene Meinungen, und immer Gelegenheit zu neuen Kämpfen und Gegenreden. (a. a. O. S.84)
Im Kriege erträgt man rohe Gewalt, so gut man kann, man fühlt sich wohl phyisch und ökonomisch verletzt, aber nicht moralisch; der Zwang beschämt niemanden, und es ist kein schimpflicher Dienst, der Zeit zu dienen; man gewöhnt sich, von Feind und Freund zu leiden, man hat Wünsche und keine Gesinnungen. Im Frieden hingegen tut sich der Freiheitssinn der Menschen immer mehr hervor, und je freier man ist, desto freier will man sein. Man will nichts über sich dulden: wir wollen nicht beengt sein, niemand soll beengt sein, und dies zarte, ja kranke Gefühl erscheint in schönen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit. Dieser Geist und Sinn zeigte sich damals überall, und gerade da nur Wenige bedrückt waren, wollte man auch diese von zufälligem Druck befrein, und so entstand eine gewisse sittliche Befehdung, Einmischung der einzelnen ins Regiment, die, mit löblichen Anfängen, zu unabsehbar unglücklichen Folgen hinführte. (a. a. O. S.88)
Ausblick in die Zukunft — Arbeit -
Ordnung - Freiheit *)
Aus der Geschichte lernen!
Wie kann der junge Mensch gefordert werden?
er muß wohl doch beordert werden,
sofern er nicht in Kind- und Jugendzeit
schon ein' gen Fleiß und Mühe zeigt,
ganz ohne säumiges Verweilen
zügig dem Schaffen zu zu eilen.
Die die der Arbeit sich verwehren,
muß halt der Staat zum Besseren belehren,
schickt sie, wo Not und Leiden brennen,
wenn willig sie den Sinn erkennen;
könn' n sie Vergnügen, Muße nicht erwarten;
so müssen sie ins Lager starten,
sich monotoner Arbeit fügen,
zu heilen sie von Lebenslügen.
Die sich entziehen durch Betäuben,
soll man auf Segelschiffe treiben,
genau 'stens auf den Nachschub achten,
vor Häfen, Wechsel aller Frachten;
Audio-Video von allen Seiten
soll`n Zwangsverpflichtete begleiten
sie schützend und auch jene, die
sie leiten
vor Drangsal und auch Kumpanei;
— Ja es gibt Starke und auch Schwache:
die ganze Welt, sie überwache,
daß hierbei alles rechtens sei.
*) BZ. Nr.15, 19. Januar 2004:
Düsseldorf — NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) und sein Kollege
aus Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU), haben sich hinter die Forderung des
VdK-Chef Walter Hirrlinger in der BZ gestellt, ein soziales Pflichtjahr für
Frauen und Männer statt der Wehrpflicht einzuführen. (a. a. O. S.2)